Wer in Graz lebt, kennt viele Arten von Leuten. Und auch viele Arten von Läuten. Die Kirchenglocken am Sonntagmorgen zum Beispiel, oder die Sirenen samstags um exakt zwölf Uhr Mittag. Nicht zu vergessen das Läuten des Trachtenpärchens am Glockenspielplatz.
Und dann gibt es auch noch die Schulglocke, speziell die letzte und die erste im Schuljahr. Diese beiden begrenzen nämlich auch jene Zeit, die mir in der Kindheit wohl wie eine Ewigkeit vorgekommen ist.
Wenn man in den 70ern in Graz in einem Hochhaus aufgewachsen ist, erscheinen einem diese zwei Monate Sommerferien rückwirkend wie ein Potpourri aus sonnig flirrenden Stunden, in denen man im Hof mit der Freundin „Gummihupfen“ war, zeitverloren mit den anderen Kindern im umzäunten Park der Neuholdaugasse Verstecken gespielt und den dicken Dackel vom angsteinflößenden Parkwächter geärgert hat. Ich erinnere mich an den Blick auf die Mur aus meinem Zimmer im neunten Stock, an das herzzerfetzende Kreischen der Schweine vom Schlachthaus gegenüber, an Maikäfer am Balkon, die es bis hier herauf geschafft hatten, an quietschvergnügte Kinder im frisch eingelassenen Parkschwimmbad, dessen Wasserfarbe und Temperatur sich im Laufe der Wochen stetig verändert haben, was uns aber allen völlig egal war. Ich denke an kurvige, magenflaue Reisen mit unserem silbernen Fiat nach Jesolo und nächtelanges Canastaspielen mit meinen Brüdern, an endlose Fernsehmachmittage und selbstgemachtes Wassereis aus Orangeade.
Doch ein Bild löst sich regelmäßig aus diesem Mosaik an Gefühlsduseleien heraus.
Zu jener Zeit gab es in Graz eine schwarze, für mich märchenhafte Kutsche, die regelmäßig, eingeleitet durch ein spezifisches Glockenläuten, in unsere Wohnstraße eingefahren ist. Der Eiswagen. Meist bereits von weitem hörbar durch das Klacken der Pferdehufe und den Ruf des Eismannes: “GefrrOOOOrenes!”
Damals sind wohl regelmäßig Dutzende Kinder aus der Schönaugegend zu ihren Eltern gelaufen, mit der Bitte um ein paar Schilling. Für mich war es immer besonders schwierig, weil der Wagen oft nur kurze Zeit in unserer Straße Halt gemacht hatte, ich aber noch neun Stockwerke hinunterlaufen musste. Erst als ich größer war, durfte ich alleine den Lift benutzen. So rannte ich also mit lautem Gestampfe durchs Hochhaus, bis ich mich unten in die Schlange von Kindern einreihte, die auf die kleine Tüte mit Eis warteten. Ich weiß nicht mehr, welche Eissorten es gab, vielleicht überhaupt nur eine, aber das war egal. Ich weiß nur noch, wie surreal mir die Kutsche immer erschienen ist und der Kutscher mit Vollbart und schwarzem Hut. Ich weiß auch nicht, ob er freundlich oder mürrisch war, er war in jedem Fall da oben und wir da unten. Er hatte das Eis und wir die fünf Schilling.
Einmal hatte ich das Läuten wohl zu spät gehört, denn als ich schnaufend bei der Straße ankam, sah ich nur noch den Rücken des bärtige Eismannes und wie er bereits seine Eiskübel verschlossen hatte, sich auf den Sitz schwang, und die Pferde antrieb. Ich frage mich bis heute, warum er sich damals umgesehen hatte. Haben Kutschen einen Rückspiegel?
Denn nach etwa zehn Metern blieb er stehen, stieg ab, und winkte mich zu sich. Ich war zu schüchtern, um auf ihn zuzugehen, außerdem war er ein Mann, ein großer Mann! Reglos und ängstlich blieb ich stehen. Da öffnete er den Deckel seiner Box, tat etwas von dem Eis auf eine, wie mir damals schien, riesige Tüte und lief zu mir. Schnell drückte er mir das Eis in die Hand und schwang sich wieder auf die Kutsche.
Stumm und verwirrt stand ich da. Das Eis schmeckte herrlich und auch ein wenig verboten. . .
Ich weiß nicht, ob der Kutscher mit dem schwarzen Hut noch lebt. Aber irgendwie würde ich ihm gerne noch Danke sagen.
„Der Eismann” ist im Magazin “grazIN”, Ausgabe 08/2018, erschienen: