Früher, später, jetzt

2018-12-03T18:42:19+00:00Von |Erzähltes|

Dora steht vor dem Badezimmerspiegel und reibt sich die Kopfhaut. Warum musste sie auch so unwirsch unter den Tisch krabbeln. Ihre Lesebrille war hinter die Abdeckung des Schreibtisches gerutscht, und in akrobatischen Verrenkungen hat Dora versucht, mit der blinden Hand ins Eck zu tappen. Dann hob sie den Kopf, hämmerte gegen eine Verschraubung unter der Tischplatte und stieß einen leisen Schrei aus. Autsch!
Jetzt steht sie da und betastet ihren Hinterkopf. Aus einer schmalen Lade holt sie ihren Kosmetikspiegel, hält ihn über ihren Scheitel und versucht, einen Blick auf die schmerzende Stelle zu erhaschen, indem sie gleichzeitig den Alibert im Auge behält.
Alibert! Ein Name so alt wie sie selbst, so alt wie Rom.

Sie teilt ihr brünett gefärbtes Haar etwas auseinander. Einige Millimeter grauer Ansatz sind bereits sichtbar. Und dann entdeckt sie die Stelle, eine rote Erhebung, blutet aber nicht. Gott sei Dank! Dora bewegt den Spiegel etwas weiter seitlich nach hinten, bis sie ihren Nacken erblickt. Eine Querfalte im Übergang zu Rücken und Schultern hat sich gebildet, wohl über die letzten Jahre. Gut, dass ihr Haar darüber fällt, Hochsteckfrisuren meidet sie ohnedies, die geben zu viel von ihrem Hals frei.

“Zum Glück behalte ich dich immer so in Erinnerung, so wunderschön, wie du jetzt gerade bist”, hatte ihr Mann einmal gesagt. Das muss kurz vor seinem Tod gewesen sein. Fast genau zwölf Jahre ist das jetzt her. Dass er sie viel zu früh alleine gelassen hat, war ihm offensichtlich egal. Er meinte wohl ein anderes Glück.

Dora legt den Spiegel weg und tritt näher an den Badezimmerspiegel. Ganz nah. Zu nah. Wie lange hat sie das schon nicht mehr gemacht? Ohne Rücksicht auf ihr halbes Jahrhundert mustert sie sich gnadenlos. Sie nimmt die drei horizontalen Falten auf der Stirn wahr, die sich in Ansätzen schon in der Abiturklasse gezeigt hatten. Sie sieht ihre Lider, die gegen die Schläfen hin etwas absacken, und die Augenbrauen, die sie nie richtig in Form zupfen kann, weil sie vorher die Lust verlässt. Sie sieht die für ihr Alter noch immer kleinen Falten an der Außenseite ihrer Augen und das messerförmige Muttermal an ihrer Wange, über das sich ihr alter Schulfreund Maximilian immer lustig gemacht hat. “Messerscharf”, hat er sie immer geneckt.

Beim letzten Klassentreffen vor zehn Jahren war sie zu spät in das etwas schrullige Lokal gekommen, während Maximilian mit dem Rücken zu ihr an der Bar saß. Eigentlich verabscheute er Klassentreffen genau wie sie, ging dann aber aus Gemeinschaftsgeist doch hin, genau wie sie.
Dora trat auf ihn zu und sagte in alter Tradition: “Hallo alter Mann!” Und er antwortete wie immer mit: “Hallo schönes Mädchen. Messerscharf!” Und alles war wie damals, als sie noch unter der Schulbank Sticker getauscht hatten und später sehnsuchtsvolle Blicke.
Vielleicht hätte Dora an diesem Abend nicht nein sagen sollen, als er sie nach dem Treffen noch um ein Date bat. Nein, er sagte “Rondewuuuhu”, in seiner schelmischen Art. Damals, als ihre Schultern noch straffer, ihr Kinn weniger faltig und ihr Haar noch fülliger war.

Doras Blick gleitet weiter zum Dekolleté. Dann zieht sie Bluse und BH aus und steht fast nackt vor ihrem Ebenbild. Dort, wo sie immer steht, immer schon stand, aber irgendetwas ist anders. Der nicht allzu große Spiegel über dem Waschbecken ist ihr immer exakt bis zum Ansatz der Brustwarzen gegangen. Sie hat immer noch diese beiden dunklen Punkte gesehen. Jetzt sind sie unter der Kante verschwunden und in den Fließenteil übergegangen. Ein leichter Schrecken durchzuckt Dora. Entweder ist sie kleiner geworden oder die Schwerkraft hat einen weiteren Beitrag geleistet. Beides wohl.
Sie spürt die Schwere ihres älter werdenden Körpers. Es ist, als würde er ihr mit jeder Bewegung mitteilen, wie sehr die Jahre an der Türe kratzten.
Maximilian ging mit dem Altern immer ganz anders um. Für ihn war jedes graue Haar ein Gewinn. “Was soll’s, ich werd doch nicht hochglanzpoliert abtreten? Was für eine Verschwendung!” Und dann hat er nachgelegt: “Im Gegensatz zu dir. Du behältst dein Pracht wohl bis zum letzten Tag!”
Das hatte er schön gesagt. Warum war sie bloß nicht mitgegangen? Er hätte ihre weiche, beinahe noch frische Haut berühren können, ihren klaren Blick auffangen, einen Mund küssen, der noch gänzlich ohne Umfaltung mitten in ihrem Gesicht prangte.
Stattdessen hatte sie ihm ihre Wange dargeboten und mit gespielter Lockerheit ihre knisternde Nervosität übertüncht. Aber damals, noch so frisch verwitwet!
Manchmal ist der Zeitpunkt einfach nicht richtig.
Dora fährt mit dem Zeigefinger ihre Oberlippe entlang. Nimmt die klitzekleinen Fältchen eher gelassen, fast schon mütterlich, zur Kenntnis. Hallo ihr Kleinen, wo wart ihr denn so lange. . .
Heute also vor fünfzig Jahren. Ein schriller Schrei und da war sie. Jahr für Jahr, jeden Tag, jede Minute. Eigentlich kann sie stolz auf ihren Körper sein, so lange war er ihr treu geblieben, nicht mal ein Blinddarm hat sich verabschiedet. Sogar ihre Weisheitszähne hielten die Stellung.

Und ihre Augen, die fand sie an sich immer am hübschesten, die haben sich zwar etwas in der äußeren Hülle, aber nicht im Inneren verändert. Tief dunkelbraune Augen schauen ihr entgegen, an der Grenze zur Pupille hin gelb und grün gesprenkelt.
Einmal, noch in der Schule, hatte sie einen riesigen Pickel direkt am rechten Nasenflügel gehabt, der war weder mit physischer Gewalt noch mit chemischen Mitteln zu bändigen gewesen, also blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn mit jener Geknicktheit, die nur Teenager in ihrer Reinheit zur Schau stellen können, zu ertragen.

Ihre beste Freundin hatte sie erschrocken und mitleidig angesehen. Aber Maximilian… Er war in den ersten drei Schulstunden neben ihr gesessen, hatte ihr in der Pause von seinen Sommerplänen erzählt, sie hunderte Male dabei angesehen, wie er es in seiner eindringlichen Art immer tat. Bis sie ihn schließlich mutig fragte, ob ihn das Riesenmonstern denn nicht ablenkte! Er wusste tatsächlich überhaupt nicht, wovon sie sprach. Der Pickel war ihm nicht einmal aufgefallen. Stattdessen meinte er aber, dass die Sprenkel in ihren Augen heute massiv ins Grünliche gingen und ihn an eine Hexe erinnerten! Mehr nicht. Der Liebe.

Dora zieht sich wieder an und trägt Wimperntusche auf. Fünfzig Jahre also. Sophia Loren ist jetzt. . . wie alt? Johannes Heesters starb jenseits der Hundert. Was soll’s also?
Als die Türglocke läutet, sprüht sie sich noch einige Spritzer ihres Lieblingsparfums in den Nacken. Sie blickt durch den Spion, lächelt und öffnet die Türe.
“Hallo, alter Mann!” sagt Dora, während sie ihren Mantel überwirft und die Türe hinter sich zuzieht.

Oft ist es zu früh, hin und wieder auch zu spät, aber manchmal, manchmal ist der Zeitpunkt wohl genau richtig.
Und als Dora vor Maximilian die Stufen hinuntergeht, hört sie noch ein Flüstern hinter sich: “Messerscharf!”