Die Rose

2019-01-13T17:57:29+00:00Von |Erzähltes|

Viktor arbeitet in einer dieser großen Firmen. Firmen, in denen jedes Monat hunderte Menschen gekündigt werden und ebenso viele wieder neu eintreten. Diese Betriebe, in denen man sich jahrelang im Fahrstuhl über den Weg läuft und auch dann noch nicht sicher ist, ob man das Gegenüber mit einem “guten Tag” oder doch schon mit einem “Hallo” begrüßen soll.

Viktor teilt sein Büro mit sechs weiteren Mitarbeitern, die mehr oder weniger der gleichen Arbeit nachgehen wie er, von denen er sich allerdings nach Feierabend immer verabschiedet und niemals mit auf ein Bier geht. Sondern heim. Heim zu seiner Frau, mit der er seit neunundzwanzig Jahren verheiratet ist.

Das Gebäude, in dem er arbeitet, liegt direkt an einem Spazierweg, der hauptsächlich von Joggern und Hundebesitzern mit kleinen kläffenden Vierbeinern genutzt wird. Besser gesagt grenzt der ausladende Parkplatz daran. Auto an Auto, wie bei einem Einkaufscenter. Viktor parkt immer direkt an der Front zum Gehweg, an dem parallel ein kleiner Bach verläuft. Dieser Teil ist meist frei, da er am weitesten vom Eingang entfernt ist. Das wiederum ist Viktor egal, weil er ohnehin einer der ersten bei der Arbeit ist und immer einen Parkplatz bekommen würde.

Auch wenn er sich sonst nicht für einen romantischen Menschen hält, was ihm alle anderen, einschließlich seiner Frau, bestätigen würden, genießt er diese wenigen Augenblicke morgens, wenn der Motor nicht mehr läuft und er einen Blick den Gehweg entlang wirft, sich kurz in den Grashalmen verliert, nach seiner schwarzen Aktentasche greift, auf den Schotter tritt und sich auf dem Weg in sein Büro macht, wo tagsüber die durchscheinenden Vorhänge aus grauem Organza zugezogen sind.

Meist arbeitet Viktor bis sieben Uhr abends, dann und wann kann es aber auch neun werden oder später. Wenn er Feierabend macht, schließt er seine Schreibtischlade ab, geht in den großen Vorraum, nimmt seinen beigen Mantel, verabschiedet sich höflich von seinen Kollegen und marschiert recht rasch zum Auto. Dann fährt er nach Hause zu seiner Frau. Er küsst sie auf die Wange, isst zu Abend und geht bald darauf ins Bett.

Das mag alles etwas nüchtern klingen, aber Viktor ist keineswegs freudlos. Es ist einfach so, dass er mit dem, was er hat, zufrieden ist. Er liebt seine Frau, er war ihr all die neunundzwanzig Jahre treu, und würde er sie jemals betrügen, wäre wohl keiner überraschter als er.

Nun war es Winter geworden und es gab kaum noch Jogger, die sich aus den warmen Stuben wagten. Eines Abends verließ Viktor sein Büro wieder etwas später. Er ging den Schotterweg entlang. Als er neben dem Auto stand, entglitt ihm sein Schlüssel und fiel auf den Boden. Er bückte sich. Durch die spärliche Beleuchtung der Straßenlaterne, die den Gehweg erhellte, musste er mit den Fingern etwas im Schotter wühlen, bis er den Schlüssel fand. Als er sich wieder aufrichtete, sah er vor sich, mit dem Rücken zu seinem Auto, eine Frau. Sie stand am Gehweg und hob, sich seltsam verrenkend, einen Arm, dann den anderen über den Kopf. Sie machte wohl Dehnungsübungen und trug Kopfhörer. Offensichtlich war sie sich Viktors Gegenwart gar nicht bewusst. Er wollte das Auto aufsperren, da blieb sein Blick an ihrer Taille hängen. Dort konnte man in Abständen immer wieder einen Teil ihrer Haut erkennen, je nachdem, wie sie sich bewegte. Ein kleiner Spalt, nicht breiter als zwei Zentimeter, der sich hell von ihrem dunklen Trainingsanzug abhob. Viktor stand dort neben seinem Auto wie angewurzelt. Die Frau hatte ihre dunklen Haare im Nacken zusammengebunden und auf ihrem Rücken zeichnete sich der Schweiß in Form eines dunklen Strichs ab, der von ihrem Hals bis dorthin reichte, wo man ihre Gesäßmitte vermutete.

Jäh wurde er aus seiner Erstarrung gerissen, als ein alter Mann mit einem Pudel den Weg entlang kam. Die Frau ließ die Arme sinken und lief langsam in die andere Richtung davon. Viktor stieg ins Auto und war verwirrt. Er war verwirrt darüber, dass er verwirrt war. Er schalt sich einen Dummkopf und fuhr nach Hause.

Am nächsten Abend ging er recht langsam zum Auto, wie es gar nicht seine Art war. Beim Wagen angekommen, suchte er seltsamer Weise nach dem richtigen Schlüssel, den er sonst immer schon parat hatte. Bevor er einstieg, blickte er sich um, sie war nirgendwo zu sehen. Er versuchte, seine schwarze Tasche am Beifahrersitz zu verstauen. Als er sich wieder nach vorne drehte, stand sie da. Also nicht direkt vor ihm, sondern unter der Laterne vor dem Parkplatz. Diesmal konnte er ihr Gesicht sehen, während er selbst hinter der Spiegelung des Autofensters verborgen blieb. Ihr Gesicht war schmal und etwas traurig. Verschlossen, als wäre die Welt nur Zwischenstation. Sie bewegte wieder ihre Arme, auf die Seite, nach oben. Und dann sah er etwas zutiefst Verstörendes. Er sah ihren Nabel. Ein kleiner dunkler Punkt, im Schein der Laterne wie ein Krater wirkend, irgendwie schutzlos und gleichzeitig gefährlich. Viktor wandte den Blick ab, als hätte er etwas Verbotenes gesehen, er schämte sich.

Zu Hause saß er etwas länger als sonst mit seiner Frau am Abendbrottisch. Sie merkte, dass er in Gedanken war. Wahrscheinlich brütete er über ein Problem seiner Arbeit, das tat er manchmal. Dann schlief er schlecht und aß wenig.

Als er sich später im Badezimmer die Zähne putzte, kam seine Frau, nur mit BH bekleidet, herein und nahm sich ein frisches Handtuch, wie so oft in den letzten neunundzwanzig Jahren. Sie legte sich das Tuch für die Dusche zurecht, als sein Blick in ihrer Bauchmitte hängen blieb. Fasziniert starrte er darauf. Seine Frau bemerkte es. Den Mund voller Zahnpasta berührte er ganz sanft den dunklen Fleck, die Vertiefung, die wie ein kleines verletzliches Tier in ihrer Mitte versteckt war. Es fühlte sich fremd an. Seine Frau sah ihn an, sah ihn überrascht an, beinahe erschrocken. Doch in ihrem Blick war noch etwas, etwas längst Vergessenes, das Viktor nicht benennen konnte. Als er sich abwandte, stand sie noch immer da, verwirrt, fragend, still. Dann ging sie hinaus.

Die nächsten Tage verliefen ereignislos, der Wetterdienst sagte Schnee voraus, der kam nicht. Bei Viktor kündigte sich eine Erkältung an, die kam auch nicht.

Nach einer Woche sah er sie wieder, diesmal stand sie etwas weiter weg, nahe am Bach. Sie lehnte einfach dort, an einem Baum und blickte dem Wasser nach. Als sie sich zum Gehen anstellte, erreichte der Lichtschein kurz ihr Gesicht. Ihr Blick war Schweigen und gleichzeitig Wildheit, Trost, Vertrauen und Argwohn. Was war nur mit ihr? Was war nur mit Viktor?

Am nächsten Morgen besorgte Viktor eine Rose. Eine tiefrote, dunkle, knospige Rose, geheimnisvoll und stolz, wie diese seltsame Frau, die ihn so fesselte. Er verließ die Arbeit etwas früher und wartete im Auto. Er wartete eine Stunde, dann noch eine. Dann fuhr er enttäuscht heim.

Als er die Wohnung betrat war alles wie immer. Während er seine Aktentasche bei der Garderobe abstellte, begrüße ihn seine Frau, fragte, wie sein Tag war und ob er Hunger hätte. Dann verstummte sie. Viktor folgte ihrem Blick. Aus Versehen hatte er mit der Aktentasche auch die Rose mit heraufgebracht. Er öffnete den Mund, vielleicht um Ausflüchte zu suchen, vielleicht, um die Wahrheit zu sagen, aber er blieb stumm. Seine Frau sah ihn an, mit riesigen Augen, gläsern und blank. Mit dem gleichen Blick wie vor Tagen, als er die Hand auf dieses Tier an ihrem Bauch legte. Plötzlich küsste sie ihn auf den Mund, ein fremder, längst vergessener Kuss. Sie nahm die Rose und ging.

Dann fiel es ihm ein. Ganz klar verstand er nun. Den Blick jener Frau am Ufer hatte Viktor bereits lange zuvor gesehen, Jahrzehnte zuvor, bei seiner eigenen Frau. Ein Blick, in den er sich verliebt hatte, wild und ungestüm, verloren, vertraut und warm, ein Blick wie ein Versprechen. Ein Versprechen, das er selbst vergessen hatte. Und sie wohl auch. Bis heute.

Als Viktor Stunden später zu Bett ging sah er im kühlen Schein des Halbmondes, der zwischen den Gardienen hindurch fiel, am Nachtkästchen die Rose liegen. Seine Frau schlief bereits. Im Halbdunkel strich er ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Augenlid zuckte, sie träumte wohl schon.