Blue Eyes Blue

2018-10-18T16:50:11+00:00Von |Erzähltes|

Als er seine Jacke über den Haken stülpen wollte, hing dort bereits etwas. Gerds Pulli. Theo nahm ihn und platzierte ihn zwei Haken weiter, denn dies war sein Haken! Es war der dritte Haken direkt neben der Türe. Heute fand er die Schlaufe an seiner Jacke, das gelang ihm nicht immer, dann half ihm Eva. Eva war seine Betreuerin, sie war groß und klug.
Auf seinem Arbeitstisch war bereits alles vorbereitet, eine blaue Kiste mit kleinen Schrauben, eine orange mit Scheibchen und eine gelbe, leere. Theo wusste ganz genau, wo er die Schrauben hineindrehen musste und wo die Scheiben hinkamen, dann setzte er alles zusammen und legte das fertige Stück in die gelbe Kiste. Und wenn sie voll war, gab es Mittagessen.
Er liebte seine Arbeit, und er benötigte niemals Hilfe dabei. Nicht wie zu Hause, wo ihm seine Mutter beim Haarwaschen helfen musste. Er konnte sich alleine duschen und alleine anziehen, da schloss er das Bad von innen ab. Nur das mit den Haaren ging nicht so recht. Aber hier, bei seiner Arbeit, da brauchte er niemanden.

Theo legte seine braune Tasche auf den Tisch, dazu einen kleinen Stoffsack. Er griff hinein holte ein Täschchen heraus und befühlte es aufgeregt. Als Gerd um die Ecke bog, steckte er es wieder weg, kramte stattdessen den Discman hervor und legte eine CD-Hülle ordentlich daneben hin. Er stöpselte sich die Kopfhörer in die Ohren und drückte viermal auf den Knopf. Das war sein Lieblingslied.
„Blue Eyes Blue“ von einem Mann namens Eric Clapton, das stand auf der CD, das hatte ihm Eva gesagt. Theo selbst nannte es Blusebluse, weil er das leichter aussprechen konnte, außerdem klang es lustig, wie die Bluse seiner Mutter mit den Schmetterlingen. Eva hatte ihm einmal erklärt, worum es in diesem Lied ging. Um blaue Augen. Nicht blau angemalte Augen, sondern das Blau in der Mitte, womit man sieht. Und ein wenig ums Traurigsein. Theo hatte dann seine eigenen Augen im Spiegel betrachtet, dort war es nicht blau sondern dunkel, und auch ein bisschen traurig, vielleicht wie die Blätter im Herbst, die er oft mit den Füßen zerstreute.

Bevor er sich um Punkt acht Uhr dreißig an die Arbeit machte, ging er ans Ende des Ganges zur anderen Gruppe und blieb im Türrahmen stehen. Dort saß sie bereits. Feinsäuberlich legte sie Papierteile vor sich hin und faltete jedes Stück auf ganz spezielle Weise. Ihr Name war Iris. Sie war vor einiger Zeit neu in die Werkstätte gekommen. Theo wusste nicht genau wann, aber damals war es noch kalt gewesen, er hatte seine dicke Jacke mit der grünen Kapuze getragen. Jetzt war es sonnig und warm, jetzt trug er die dünne Blaue.
Er ging zu ihrem Tisch und blieb dort stehen. Sie reagierte nicht und faltete weiter. Theo strich leicht über ihr Haar. Es roch so gut, nach Erdbeeren und Gras und irgendwie auch nach Taschentüchern. Er hatte noch nie so glänzendes Haar gesehen, außer in dieser Zeitschrift, wo das Mädchen ihre Zehen ins Wasser streckte und lachte. Iris lachte fast nie. Einmal hatte er gesehen, wie sie einen Marienkäfer am Fenster beobachtete, da lächelte sie. Und ihre Augen waren blau, wie das Lied, wie Blusebluse. So blau, wie Theos Jacke, so blau, wie der Himmel, wie diese Blume, die er vor langem am Straßenrand gesehen hatte. Er hatte sie abgerissen, in das gestrickte Täschchen gegeben und das Täschchen in den Stoffsack. Irgendwann wollte er sie Iris schenken. Sicher würde sie dann auch lächeln! Natürlich würde sie lächeln, wie damals beim Marienkäfer.

Theo ging wieder zurück zu seinem Platz. Nochmals berührte er die wollige Oberfläche. Da drinnen war sie, die schöne blaue Blume, die er nur für Iris gefunden hatte. Sicher verwahrt, keiner wusste davon. Nicht mal er selbst hatte es gewagt, nochmals hineinzusehen.
Beim Mittagessen saß er ihr gegenüber. Sie aß nicht mit der gleichen Hand wie er. Diese Hand war kleiner, und die Finger konnte man nie sehen. Irgendwie machte sie immer eine Faust, wie die Leute im Fernsehen, wenn sie sich schlugen. Einmal hatte er diese Hand berühren wollen, ganz langsam wollte er seinen Finger in die Höhlungen ihrer Knöchel legen. Da zog sie die Hand weg und hielt sie unter den Tisch. Sie hatte ihn angesehen, nicht böse. Neugierig. Mit ihren blauen Augen, mit Blusebluse.
Am Nachmittag war er unruhig. Es war heute anstrengend für ihn. Oft griff er in die falsche Kiste, drehte die Schraube an der verkehrten Stelle hinein. Eva half ihm dann.
Aber Theo wartete ungeduldig auf die Sonne, denn in der Sonne schimmerte das Blau der Blume wohl ganz besonders. Dann sollte Iris sie bekommen. Theo wollte die Sonne heute keinesfalls verpassen.
Und plötzlich schien sie, zwischen zwei dicken Wolkenpatzen brannte sie direkt auf seine Hände, sein Gesicht, sein Stoffsackerl. Theo griff hinein und öffnete zum ersten Mal, seit er die Blume gepflückt hatte, das bunte Wolltäschchen. Er erschrak. Die Blume war zu einem grauen Häufchen trockener Blätter geschrumpft. Er sah nur vertrocknete Teile, flache Stücke, seltsam färbige Reste. Theo kamen die Tränen. Dann wurde er wütend und fegte alles auf den Boden. Er legte den Kopf in die Hände.
Plötzlich nahm er neben sich eine Bewegung wahr. Iris kauerte am Boden und manövrierte vorsichtig Stück für Stück der einstigen Blume in ihre geöffnete Hand. Fasziniert betrachtete sie die dunkelgrünen und graublauen Teile. Als sie aufsah, sagte sie zu Theo: „Schön! Papier.“ Dann ging sie.

Theo war, er war. . ., etwas in seinem Bauch fühlte sich komisch an. Da erblickte er auf seinem Tisch etwas kleines Dunkles, den wohl letzten trockenen, verlorenen Teil der schönen blauen Blume. Er nahm ihn, lief hinter Iris her und hielt ihr das Stück entgegen. Sie berührte das Blättchen zart mit dem Zeigefinger, sodass es dort kleben blieb, und hievte es so in ihre eigene Hand. Theo starrte sie an.

Und dann, dann lächelte sie und lief davon.

(“Blue eyes blue” ist im Magazin Lebenshilfe Steiermark (jetzt lebens.magazin) 02/2015 erschienen: zum Magazin.)