Es muss im Sommer gewesen sein, als ich zwölf war. Zwölf, im Übergang zu dreizehn, im Übergang zu allem Großen, Wunderbaren, Neuen.
Ich verbrachte die Ferien mit meiner besten Freundin (in dem Alter gibt es so etwas noch) bei ihrer Großmutter. Es war nicht direkt am Land, wie man heute „am Land“ sagt, sondern ländlich. Ein altes Häuschen mit Garten, dahinter ein Maisfeld, schließlich ein Weg und dann ein Bach oder Fluss. Wir beide, Tina und ich, hatten unser eigenes Zimmer, mit einem antiken Doppelbett in der Mitte, hohen Matratzen, dunklen Möbeln, kleinen Fenstern. In meiner Erinnerung war es immer lau, immer warm, es wehte immer ein leichter Wind und es roch nach Erde, komisch eigentlich.
Meistens wurde ich sehr früh wach, geweckt durch die intensiv lauten Kehlen der Vögel, die mir damals, als Stadtkind, nicht sonderlich vertraut waren. Morgens war es dort so, als stehe die Welt still. Wenn ich mit meinen nackten Zehen über die knarrenden Holzdielen schlich, hinaus in den Garten wanderte, nur mit meinem überlangen T-Shirt bekleidet, durch das feuchte Gras schritt, habe ich nie jemanden, bis auf die umherlaufenden Hühner, gesehen. Außer einmal.
Ich war weiter als sonst „hinaus“ gegangen, durch das Maisfeld hindurch bis zum Feldweg, der parallel zum Bach verlief. Als ich auf den staubigen Untergrund stieg, bemüht, nicht allzu fest auf die Steinchen zu treten, die sich in meine Fußsohle bohrten, sah ich eine Gestalt entlang kommen. Ein Junge, ein junger Mann, vielleicht 15 oder 16. Ich hatte ihn schon im Dorf gesehen, er wohnte direkt über der Bäckerei. Wir kannten uns vom „Wegschauen“. Zumindest ich tat es meist, nachdem er mich zuvor mit seinem Blick fixiert hatte. In der Hand hatte er einen groben Korb, gefüllt mit wahrscheinlich frischem Gebäck. Ich war geneigt, mich umzudrehen und zurückzulaufen, weil ich mir plötzlich meines Äußeren bewusst geworden war. Zerzaustes Haar, das T-Shirt, mit Flecken, zwei Pickel, die fröhlich und ungeschützt vor sich hin blinkten. Stattdessen blickte ich nur auf den Boden, tat so, als suche ich etwas. Als er auf meiner Höhe war, sprach er mich an. Zum ersten Mal überhaupt, hatte er das Wort an mich gerichtet. Seine Stimme war ungewöhnlich tief, die Stimme eines Mannes. Und er sagte nur: „Alice, ohne Schuhe, aus dem Kaninchenloch entflohen?“
Ich sah auf und musste lächeln. Ein plötzliches, aus dem Inneren kommendes, erleichtertes Lächeln, eines, das automatisch entsteht, hervorgeholt durch jenes Gefühl, das man wohl Verliebtheit nennt, und das auch zu ganz anderen Ergebnissen führen kann: Verstörung, Erstarrung, Weglaufen…
Als er vorüber gegangen war, nachdem er mein Lächeln aufgesammelt und in seine abgerissene Hose gesteckt hatte, lief ich zurück. Meiner Freundin erzählte ich nichts. Abends beschlossen wir, zum Dorf hinunter zu gehen, „Eis essen“. Was bedeutete, eine Stunde Duschen, Lipgloss auflegen, zwei Stunden vor dem Spiegel stehen, Kleidung zehnmal wechseln und sich schlussendlich für die erste Wahl zu entscheiden. Und Duft, um den intensiven Geruch der heranwachsenden Mädchen zu übertönen.
Diesmal war ich nicht barfuß. Diesmal müsste er etwas anderes sagen, wenn er was sagte. Ich wünschte es mir, gleichzeitig fürchtete ich mich davor.
Doch er war nicht da, nicht am Dorfplatz, nicht vor, in, über der Bäckerei. Tina und ich saßen dort recht lange herum, saßen auf den Mauervorsprüngen, auch sie war in jemanden verliebt. Sie hatte ihn im Jahr zuvor kennengelernt. Auch er war nicht da.
Wir brachen auf, beide enttäuscht. Sie offensichtlich, ich heimlich. Auf dem Rückweg schlenderten wir am Maisfeld entlang. Da sah ich ihn, am Rande des Baches stehen, mit einem Mädchen, ich weiß nicht, ob sie sich an den Händen hielten oder nur so nahe beieinander standen, das war mir egal. Ich sah weg, sah fort. Wütend, traurig, beschämt, stolz.
Beinahe auf deren Höhe angelangt, musste er uns gesehen haben. Da kreuzte eine Katze unseren Weg. Unweigerlich blieb ich stehen. Ich beugte mich zu ihr, streichelte sie sanft, ganz leicht, mit einem Finger unter dem Kinn. In diese Berührung legte ich all meine zurückgewiesenen Gefühle, ja, so empfand ich es damals, hinein. Soll er nur sehen, wie zärtlich ich sein kann, soll er nur bei seiner blöden Tusnelda stehen, sollte er sie nur umarmen. . .
Die Katze genoss meine Berührung sichtlich, schmiegte sich an meine Hand, in meine Hand, wollte mich offensichtlich beschnüffeln, hob dann den Kopf und berührte mit ihrer Nase ganz zart. . . meinen Mund, meine Oberlippe. Kühl und nass. Das war, das war. . . kitzelig. Ich musste lachen. Als ich aufsah, erhaschte ich seinen Blick. Seltsamerweise glich er meinem von vorhin. Aber es lag noch etwas darin. Später, als meine Freundin und ich bereits den Weg durchs Maisfeld eingeschlagen hatten, fiel es mir ein: Es war Bedauern.
Das war mein erster Kuss.