Endlich! Elsa war überglücklich. Das lange Warten hatte sich gelohnt. Heute Morgen war er geschäftig in ihr Büro gekommen. Sein Blick war über die fünf Schreibtische gestreift und dann unsicher bei ihr hängen geblieben. “Frau Stöger?”
Gewiss, es hatte wohl so wirken sollen, als hätte er sie erst jetzt richtig wahrgenommen und nicht bereits monatelang beobachtet. Hier im Büro musste man vorsichtig sein, es wurde ja so schnell geredet.
Elsa nickte dem Regionalleiter aus der anderen Abteilung freudig und aufgeregt zu.
“Mein Name ist Meinhart, bitte entschuldigen Sie die Störung. Aber Sie bearbeiten doch den Fall ‚Parkett Klostermann‘, wie ich gehört habe.”
“Ja!” beeilte sich Elsa zu antworten. “Ich mache die Verrechnung!”
“Hm”, sagte Herr Meinhart, oder besser Gerd, so nannte Elsa ihn bereits seit Wochen, seit sie sein Interview in der Wochenpost gelesen hatte, “ich habe gestern recht wichtige Dokumente erhalten, allerdings hab ich die dummerweise zu Hause liegen lassen. Jetzt fahre ich heute Abend aber auf eine einwöchige Dienstreise. Und es gäbe noch das eine oder andere dazu zu besprechen, und wir sind damit ohnehin schon in Verzug. Wären Sie eventuell so nett, ich meine. . . könnten Sie die Papiere bei mir abholen?”
“Ja, aber natürlich!” Elsa bemühte sich, nicht allzu übermotiviert zu klingen.
“Das wäre wirklich sehr kollegial von Ihnen, Sie bekommen natürlich die gesamte Zeit verrechnet, sowie Hin- und Retourfahrtgeld und noch einen Abendzuschlag. Es wird sicher nicht lange dauern!”
“Wann soll ich da sein?” Elsa spürte die warme Röte im Gesicht.
“Wie wäre es gegen sechs? Ich muss um 20 Uhr beim Flughafen sein, da haben wir noch gut Zeit für einige Erklärungen!”
Elsa überflog blitzschnell ihren Zeitplan. Wenn sie etwas früher zu arbeiten aufhörte, könnte sie noch zu Hause vorbei fahren und sich umziehen und zurechtmachen, dann ginge es sich aus. “Ich bin um sechs bei Ihnen. Punkt sechs!”
“Vielen Dank, das ist wirklich eine Ausnahme.” Meinhart machte sich ans Gehen, als ihm einfiel: “Sie wissen ja noch gar nicht, wo ich wohne!”
Elsa musste sich zusammennehmen, um nicht laut herauszurufen: “Weißenweg 15, vier Busstationen von hier, von der Straße aus sieht man in dein Wohnzimmer und vom gegenüberliegenden Park in dein Bad, aber das hat leider nur ein Oberfenster!” Stattdessen sagte sie: “Die finde ich in den Personalakten, kein Problem!”
“Ah, toll, na dann, danke Frau Stocker!”
“Stöger”, sagte Elsa wissend. Aber er war schon aus der Türe.
Das machte er wirklich gut. Ein schlauer Plan, so zu tun, als könne er sich ihren Namen nicht genau merken. Und wie souverän er sie zu sich in die Wohnung gelockt hatte!
Ihre Arbeitskolleginnen warfen sich verstohlene Blicke zu, die Elsa aber ignorierte. Diese blöden Puten waren sicher selber scharf auf Gerd, ihren Gerd. Die dicke, etwas dümmliche Baumann hat seit Frühlingsbeginn immer wieder einen Strauß Blumen auf ihrem Schreibtisch stehen. Niemand hatte es bemerkt, aber Elsa war es sofort aufgefallen. Gerd hatte im Interview erzählt, dass er seine Inspiration oftmals aus der Natur schöpfe. Dieser platte Blumenversuch war echt das letzte. Außerdem konnte sie mit ihren fast fünfzig der zehn Jahre jüngeren Elsa niemals das Wasser reichen. Und dann die meckernde Kiesinger! Früher trank sie nur Milchkaffee, jetzt fing sie plötzlich an, Espresso beim Automaten zu wählen. Genau wie Gerd.
Wie oft Gerd in den letzten Wochen beim Kaffeeautomaten gestanden war! Wenn man da einen Schritt zur Seite machte, konnte man direkt durch die großflächigen Glasscheiben in die anderen Büros sehen. Direkt zum Schreibtisch von Elsa. Immer um Punkt zehn stand er da mit seinem Kaffee und sah hinaus in die Ferne. Zumindest tat er so. Aber Elsa wusste, dass er sie immer im Augenwinkel beobachtete. Elsa war einmal nach Gerds Pause zum Automaten gerannt, weil sie gesehen hatte, dass er seinen Kaffebecher unabsichtlich am Fensterbrett hatte stehen lassen. Sie schnappte sich den Becher und erkannte an der Höhe des Kaffeerandes, dass es Espresso gewesen sein musste. Sie entdeckte die Stelle, wo er getrunken hatte, wo seine Lippen am Papierrand nur Minuten zuvor geweilt hatten, und es wurde ihr kalt und warm zugleich. Den Becher hatte sie mitgenommen und auf ihren Nachtisch gestellt. Ein wenig roch er sogar noch nach Kaffee.
Sie war so glücklich. Endlich konnten sie alleine miteinander sprechen. Endlich einmal wirklich sprechen.
Sie beeilte sich und verließ das Büro fünfzehn Minuten früher. Die drei Stationen mit dem Bus kamen ihr wie eine Ewigkeit vor. Zu Hause angekommen, katapultierte sie Tasche und Mantel in die Ecke, zog sich noch im Vorraum aus und stieg in die Dusche. Sie rasierte sich die Beine und wusch sich die blonden schulterlangen Haare. Jetzt stellte sich die Frisurenfrage. Lieber zu einem kessen Pferdeschweif gebunden oder besser romantisch offen? Schließlich entschied sich Elsa für eine grobe Haarklammer, die sie im Laufe des Abends einfach unabsichtlich, wie in Gedanken, öffnen, und dann mit gespielter Koketterie sagen könnte: “Oh, wie dumm, wären Sie vielleicht so nett…?” Und Gerd würde versuchen ihr zu helfen, und. . .
Elsa sah auf die Uhr, um Himmels Willen, schon viertel vor sechs, sie würde noch den Bus versäumen! Sie schlüpfte in ihre “Ausgehbluse”, die einzige dieser Art, sie ging nicht oft aus. Meist mit ihrer Schwester und das auch nur Samstag oder Sonntag Nachmittag.
Als Sie vor Gerds Türe stand, war es genau drei Minuten nach sechs. Elsa drückte auf die Klingel.
Drinnen hörte sie Schritte und dann machte Herr Meinhart auf. Sein Hemd war wie in Eile in die Hose gesteckt. Er bat sie zerstreut herein. Sie standen direkt in einer geräumigen Wohnküche.
“Bitte setzen Sie sich, ich mache mich noch schnell fertig, dann haben wir die restliche Zeit für uns.” Wie er das sagte, “für uns. . .”
“Darf ich Ihnen etwas anbieten? Tee, Saft, Wein?” Letzteres sagte er mit einem Lächeln, offensichtlich in der Annahme, Elsa würde ablehne, es war ja ein Arbeitsgespräch.
“Ein Glas Wein wäre nett!”
Herr Meinhart stutzte für den Bruchteil einer Sekunde, dann lächelte er wieder. “Natürlich, hier im Kühlschrank muss noch irgendwo. . ., trinken Sie Weiß?”
“Ja gerne, ich liebe Weißwein!”
Herr Meinhart stellte ein langstieliges Kristallglas vor Elsa auf den Tisch und befüllte es zu einem Drittel mit der kalten Flüssigkeit. Dann nickte er ihr zu und verschwand ins obere Stockwerk.
Elsa hatte am Tisch Platz genommen. Sie blickte sich um. Nichts in dieser Wohnung deutete auf eine Frau hin, auch im Interview hatte er über sein Privatleben nicht viel verraten. Die Küche war ordentlich und sauber, in der Spüle stand ein benutzter Teller und ein Wasserglas. Elsa stand auf und inspizierte das Geschirr genauer. Da waren Teigreste drauf, wie von einem Kuchen und hellorange Flecken, mit dem Finger strich sie darüber, dann kostete sie. Marmelade, Marillenmarmelade, wahrscheinlich Marillentorte. Sie legte den Teller wieder weg und streifte langsam durch die Räume, während sie immer wieder am Wein nippte, der ihr schon bald zu Kopf stieg und die anfängliche Nervosität in Vorfreude umwandelte. Elsa setze sich auf die Couch. Hier also, hier saß ihr Gerd abends, auf diesen Pölstern, platzierte womöglich seine Beine auf den Tisch, trank seinen Wein, sah fern oder las. Hier hatte er vielleicht stundenlang überlegt, wie er es anstellen sollte, sie anzusprechen.
Elsa schnüffelte an der Decke, die lose über dem Sofa hing. Sie roch etwas verstaubt, so wie ungebrauchte Wäschestücke, die lange im Schrank gelegen waren. Eine blaue Decke. Gerd mochte blau. Einmal hatte er ein blaues Polo unter seinem Pulli getragen. Am nächsten Tag war Elsa mit einem blauen Halstuch gekommen. Sicher hatte er es bemerkt, dieses versteckte Zeichen, hatte es gesehen, wenn er sie vom Kaffeautomaten aus beobachtete.
Über sich hörte sie Schritte. Da oben war er, da oben ging er. Schnell, agil, selbstbewusst, wie im Büro.
Die Schritte wurden lauter. Elsa setzte sich wieder an den Tisch. Und da stand er vor ihr, im adretten Anzug, einen kleinen Koffer in der einen und einen dicken Ordner in der anderen Hand.
“So, dann gehen wir es einmal an!” Herr Meinhart setzte sich zu Elsa und begann mit seinen Ausführungen. Elsa wartete geduldig, stellte ab und an eine Verständnisfrage und sah dabei immer wieder heimlich auf die Uhr. Um acht, hatte er gesagt, also musste er spätestens um halb acht losfahren. Jetzt war es zehn vor halb acht! Elsa wurde unruhig, viel Zeit hatte er nicht mehr. Irgendwann fragte Herr Meinhart:
“Und, ist das soweit verständlich, brauchen Sie noch was, Frau Stocker?”
“Stöger”, dachte Elsa, nun doch etwas gereizt, warum musste er auch hier dieses Spiel spielen?
“Äh, nein, ich meine ja, könnten Sie mir nochmals sagen, wie diese beiden Positionen zu verstehen sind?” Sie zeigte auf irgendeine Zeile auf dem Blatt.
Herr Meinhart blickte nun ebenfalls auf die Uhr und begann seine Erklärungen mit leichter Ungeduld in der Stimme von Neuem. Schließlich schloss er mit:
“So, nun habe ich Sie aber lange genug aufgehalten. Ich danke Ihnen vielmals für Ihr Kommen. Ich denke, das war jetzt das wichtigste. Kollege Grabner wird mich vertreten, wenn Sie also noch Fragen haben, wenden Sie sich einfach an ihn.” Er wollte sich erheben.
Elsa war der Verzweiflung nahe. Jetzt hieß es schnell handeln, was sollte das? Sie hatte ja noch nicht mal die Sache mit der Haarklammer anbringen können. Da streifte sie wie unabsichtlich das Weinglas, das Gerd im Laufe des Gespräches wieder aufgefüllt hatte, und der Inhalt ergoss sich über sein Hemd und einen Teil des Sakkoärmels. In perfekt gespielter Hektik und Zerknirschung fuhr Elsa hoch und entschuldigte sich tausend Mal.
Meinhart war aufgesprungen, im ersten Moment schien er wütend zu werden, dann besann er sich und sagte gefasst: “Kein Problem, ich werde mich umziehen, das geht ganz schnell. Sie können jetzt wirklich gehen, das macht nichts.” Es war bereits viertel vor acht, das würde knapp werden.
“Nein, sagte Elsa, Sie können das hier ja nicht über eine Woche stehen lassen, da wölbt sich ja die Holzplatte, ich putze das inzwischen.”
Herr Meinhart trat unschlüssig von einem Bein aufs andere, dann lief er die Stufen hinauf.
Elsa hob die Scherben auf, das Glas war nur in zwei Teile zerbrochen. Schade, Scherben brachten ja Glück. Sie trocknete den verschütteten Wein mit Küchenpapier auf.
Was konnte sie jetzt noch tun?
Als Gerd die Stufen im neuen Anzug herunterstürzte, saß Elsa schluchzend am Tisch.
“Es tut mir so leid, ich bin so ungeschickt, bitte verzeihen Sie! Und Sie haben es ja so eilig, ich Dummerchen, immer wieder passiert mir sowas!”
Herr Meinhart zögert etwas, dann trat er hinter Elsa und legte ihr die Hand auf die Schulter.
“Frau Stöger, nehmen Sie sich das bitte nicht so zu Herzen, das ist ja kein Weltuntergang. Ich nehme den nächsten Flug über Zürich. Das geht sich dann bis morgen zum Meeting trotzdem gut aus. Bitte, beruhigen Sie sich.”
Elsa spürte die warme Hand. Er hatte ihren richtigen Namen gesagt, war das ein Zeichen? Sie drehte sich langsam um…
“Ich rufe Ihnen ein Taxi, das bringt sie nach Hause, ja?” Gerd zog die Hand zurück.
Elsa trocknete sich die Tränen, nickte und nahm den Ordner an sich.
“Ja, Dankeschön!”
Im Wagen ließ sie den Abend Revue passieren. Eigentlich war es ja nicht so schlecht gelaufen. Er hatte offensichtlich versucht, sie mit Wein etwas zu betören, aber sie hatte es zu spät begriffen, und dann war die Zeit um. Man durfte nicht zu viel vom ersten Mal erwarten. In einer Woche war er ja wieder da. Vielleicht würde er sie dann sogar bitten, ihm die Akten persönlich vorbei zu bringen. Er liebte sie, das war klar. Elsa war sehr zufrieden und spürte noch die Wärme seiner Hand auf ihrer Schulter.
Und was das Allerschönste war: Ihr Gerd hatte extra für sie seinen Flug sausen lassen. . .