Helfende Begleitung ist so individuell wie der Mensch selbst. Es gibt Richtlinien, aber kein Protokoll. Jeder Handgriff passt sich der Situation, Tagesverfassung, aber vor allem der Persönlichkeit an. Den Ratgeber, wie man sensibel und respektvoll unterstützt, schreibt jeder für sich selbst, und zwar immer wieder neu. Manchmal beginnt er mit „Lala“, manchmal mit einem Kuss.
Es ist drei Uhr nachmittags, Zeit für den letzten Toilettengang mit Sara*, bevor sie mit dem Taxi nach Hause gebracht wird. Während ich auf sie zugehe, versuche ich im Geiste bereits ihre Körperbewegungen vorauszuahnen, um ihre Hände im richtigen Moment zu ergreifen und ihren eigenen Aufsteh-Impuls auszunutzen. Heute klappt es auf Anhieb. Ich rufe: „Eins, zwei uuuund… DREI!“. Mit einer gemeinsam komponierten Bewegung ziehe ich sie hoch und bringe sie zum Stehen. Ich hätte auch „A, B uuuuund Cee!“, oder „Summ, summ, SUMM!!“, sagen können. Vielleicht bräuchte ich auch gar nichts zu sagen, aber diese lautmalerischen Betonungen scheinen einen gewissen Reflex auszulösen. Sara lacht und sagt „Sara“, und dann nochmals „Sara!“. „Mama, Sara, Lala“, das sind die einzigen Worte, die ich sie jemals sagen hörte. Sie lacht mich mit ihren wirklich außerordentlich hübschen grünen Augen an.
Ich lache zurück. Die junge Frau sieht heute besonders herzig aus mit ihren zu einem Pferdeschweif zusammengebundenen, dunklen Haaren und der hellgrünen Bluse.Gut, dass sie stabil stehen und, wenn auch langsam, gehen kann. Das macht das ganze Prozedere viel leichter, vor allem für sie. Ich bugsiere sie langsam Richtung Toilette, indem ich ihre linke Hand mit meiner linken nehme und führe, während ich gleichzeitig meine rechte Hand am unteren Rücken platziere und dort leicht anschiebe. Ich habe keine Hand mehr frei, aber einer von Saras Kollegen drückt für mich auf den Türöffner, der im Gruppenraum angebracht ist.
Saras Kopf reicht mir bis zur Schulter. Dort spüre ich jetzt einen Kuss. Sara hat auch schon mein Haar oder meinen Arm geküsst. „Oh!“, sage ich, „war das wieder ein Bussi? So ein richtiger SCHMATZZZZ?“. Sara lacht wieder, diesmal länger und lauter. Man sieht ihr die 20 Jahre nicht eindeutig an, sie könnte 15 oder auch 25 sein.
So im Doppelpack gelangen wir in das große, barrierefreie WC. Ich schließe die Tür hinter mir. An der Wand finde ich die drei Größen Latexhandschuhe, jedes Mal wieder überlege ich, ob ich „M“ oder „L“ wählen soll. „M“ ist recht eng, erlaubt aber genaueres Hantieren, „L“ ist angenehmer zu tragen, eignet sich aber nicht so gut für feinmotorische Tätigkeiten. Heute wird es Medium. Ich reinige den Toilettensitz mit Desinfektionsmittel und klappe die seitlichen Haltegriffe links und rechts davon herunter. Sara steht und wartet. Es ist nicht ganz klar, inwieweit sie versteht, was als nächstes kommen soll, es geschieht wohl einfach. Wir gehen gemeinsam bis direkt vor den Sitz, aber auch nicht zu nahe heran, denn dann kann ich sie nicht mehr in eine Drehung führen, sodass sie so positioniert ist, wie man sich eben bei einem Toilettengang positioniert. Die Aufforderung, sich selbst zu drehen, kann die junge Frau nicht verstehen, aber mit den richtigen Handgriffen zur richtigen Zeit ist es wie ein gemeinsamer Tanz, wo jeder Schritt den nächsten automatisiert. Geschafft!
Ich versuche ihre schmalen Hände und Finger jeweils auf die Haltegriffe zu legen. Wie man es auch von Säuglingen kennt, umfasst sie die runden Stangen instinktiv. Während ich ihre Leinenshorts nach unten ziehe, fällt mein Blick auf den Markennamen am Innenetikett der Unterhose. Als Betreuer befindet man sich immer in dieser gedanklichen Ambivalenz, man möchte nicht allzu genau hinsehen, um die Professionalität in dieser intimen Handlung für sich selbst zu unterstreichen, gleichzeitig muss man aber beobachten, auf die Haut achten, auf Veränderungen oder Besonderheiten. Ich stütze mit einer Hand Saras Rücken und mit der anderen drücke ich sie von vorne sanft in den Sitz. Ich vergewissere mich, dass die Position richtig ist und nirgendwo etwas daneben gehen kann. Ja, so passt es gut.
Sara sieht mich erwartungsvoll an. Sie sitzt stabil. Ich versuche die Hose und Unterhose wieder etwas hochzuziehen, bis knapp unters Knie, sodass sie trotzdem nicht allzu entblößt dasitzen muss. Für sie scheint das keinen Unterschied zu machen, was ich gut finde. Ich erinnere mich an meine Mutter, die in den letzten Jahren ihrer Alzheimer Erkrankung nicht mehr sprechen und auch nicht mehr bewusst reagieren konnte. Dennoch, wenn ich ihr etwa morgens die Pyjamahose ausziehen wollte, griff sie instinktiv zum Bund und wollte sie wieder hochziehen. Ein Akt der Scham, den wir von klein auf verinnerlicht haben, vielleicht auch kulturell bedingt und beim weiblichen Geschlecht verstärkt. Meine Mutter hat unbewusst gehandelt und es tat mir jedes Mal weh, wenn ich diesen Ablauf aufgrund praktischer Überlegungen unterbinden musste. Umso entspannter ist es, dass Sara dies nicht so zu empfinden scheint, sie sieht mich nur neugierig an und sagt „Lala!“.
Ich winke ihr zu und mache mich daran, den Raum zu verlassen, um draußen zu warten. Vorsichtig öffne ich die Tür, damit, sollte gerade jemand vorbeigehen, nicht die komplette Sicht auf die junge Frau gegeben ist. Ich warte eine Minute, zwei. Plötzlich ertönt ein Alarm. Oje, ich hatte vergessen, die Haltegriffe wieder nach oben zu klappen. Dort sind nämlich zwei Druckknöpfe angebracht, die man betätigen kann, um bei Notfällen auf sich aufmerksam zu machen. Ich betrete erneut die Toilette und deaktiviere den Alarm seitlich an der Wand. Sara liebt es, Knöpfe zu drücken, aber nun beobachtet sie mich und ist abgelenkt. Ich beschließe, bei ihr zu bleiben, so kann sie sich weiterhin abstützen und ich kann die Knöpfe im Auge behalten.
Sara klopft auf die Griffe, zweimal, dreimal, dann sagt sie „Sara, Mama“. Ich lächle. Es rührt mich, wie sehr das Mädchen hier in diesem Raum nicht nur von meinen Handlungen, ja, man kann es nicht anders sagen, abhängig ist, sondern auch meinen Gedanken preisgegeben ist. Es ist ungeschützt vor mitleidigen oder gar argwöhnischen Blicken. Auch allzu große Besorgnis ist nicht angebracht. Nein, man will nur wohlmeinend fühlen, sich hineinversetzen und seine eigenen Empfindungen hintanstellen. Denn es ist nicht immer so, wie wir meinen, dass es für den anderen ist. Oft ist alles viel unkomplizierter, als wir denken.
Ich öffne den Wasserhahn ganz leicht, gerade so, dass ein leichtes Tröpfelgeräusch zu hören ist. Manchmal aktiviert das den Blasenentleerungsvorgang. Ich überlege, wieviel sie heute getrunken hat, um abzuschätzen, wie notwendig es wäre, dass sie jetzt noch Harn hat, bevor sie nach Haus fährt. Das Mittagessen wird püriert und ihr mit dem Löffel eingegeben. Wieviel Flüssigkeit habe ich dafür verwendet, 200 ml? Zusätzlich hat es etwas Saft gegeben, vielleicht 250 ml, den sie mittels einer Plastikspritze getrunken hat. Manchmal dreht sie dabei den Kopf weg, dann gilt das Gleiche wie beim Aufstehen, man muss den richtigen Moment „erspüren“. Heute ging es gut, also sollte schon einiges in der Blase sein. Ich drehe den Wasserhahn ab und lausche. Ich höre (leider) nichts. Es ist immer ein Glücksspiel, wie lange es dauert, dass der Entleerungsvorgang durch einen Impuls gestartet wird. Manchmal geht eben gar nichts. Ich überlege, wie lange ich noch warten soll, nachsehen möchte ich nicht, denn dazu müsste Sara aufstehen. Und zu viel auf und nieder will ich ihr jetzt nicht zumuten.
Nach einigen Minuten fasse ich sie an den Händen und rufe: „Eins, zwei und…“. Sara erhebt sich. Der Blick in die Toilette zeigt mir, dass wir doch Glück hatten. Ich freue mich, reiße ein Stück Toilettenpapier ab und tupfe alle relevanten Stellen ab. Dann betätige ich die Spülung. Jetzt wieder die Hose nach oben ziehen. Ich drapiere ihr weißes Unterhemd sorgfältig in die Unterhose, darüber die Bluse und dann alles in die Shorts. Ich selbst würde die Oberteile außen hängen lassen. Aber ich mache das für Saras Mutter auf diese Weise, offenbar ist ihr dieses kleine Detail wichtig, denn genauso angezogen kommt sie jeden Morgen in die Gruppe. Und selbst, wenn das keine wirkliche Aussagekraft hat, soll die Mutter ihre Tochter, ihr „kleines Mädchen“, so gut betreut und gepflegt wissen, wie sie es sich vorstellt. Nur wer selbst schon in dieser Form für jemanden sorgen musste, wer selbst gefühlt hat, mit welchen Unsicherheiten und Angstgefühlen man als Angehöriger zu kämpfen hat, wenn man einen lieben Menschen zeitweise in die Obhut von Fremden geben muss, wird das verstehen.
Jetzt noch Händewaschen und wir sind fertig. Ein, zwei Schritte zum Waschbecken. Sara hält sich am Rand fest. Da, ein Kuss auf die Schulter, gefolgt von einem „Lala!“, was zu diesem Zeitpunkt wie ein „Danke“ anmutet. Ich muss wieder lächeln, beide betrachten wir uns im Spiegel. Zwei Menschen, für zwanzig Minuten eine Symbiose, eine kleine Einheit, ein Paket Gemeinsamkeit. Ich ziehe die Handschuhe aus. Vielleicht sollte ich sie „laut Anordnung“ noch anbehalten, aber die Berührung einer Latexhand ist so unpersönlich wie ein Krankenhausflur. Ich drehe das Wasser auf, fasse nach einer von Saras Händen, dann nach der zweiten und lasse das kühle Nass darüber laufen. Sie ist fasziniert, dreht die Hände in die eine, dann in die andere Richtung. Ich drücke etwas Seife aus dem Spender und wir waschen praktisch gemeinsam vier Hände. Dann bekommt sie ein Papierhandtuch, das sie sofort in viele kleine Stücke zerreißt. Ich weiß, dass sie das liebt und sehe ihr eine Zeitlang dabei zu. Dann sammle ich die Teile vom Boden zusammen und werfe sie in den Mistkübel.
„So, fertig“, sage ich. Sara klopft auf ihren Oberschenken, als würde sie sich selbst antreiben.
Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen, denke ich mir. In einer anderen Welt, zu einer anderen Zeit… Vielleicht würde sie jetzt noch Lippenstift auflegen, ein paar Sprüher Parfum im Nacken verteilen und auf ihren Freund warten, der sie mit dem Motorrad abholen kommt. Ich öffne langsam die Tür und wir treten gemeinsam auf den Flur. Zwei Tanzende im sehr langsamen Schritt. Jetzt lacht Sara laut und herzlich. Ja, dieses Lachen wäre wohl in jeder Welt gleich. Plötzlich spüre ich wieder einen Kuss auf der Schulter.
Ich glaub, diesmal bedeutet er nicht „Danke“, sondern einfach nur „Erwischt!“.
*) Name wurde geändert.
Der Beitrag ist im Magazin “Menschen”, Ausgabe 02-03/2025, erschienen:
