Als Erwachsene führen wir wohl viel von dem, was wir sind, auf unsere Kindheit zurück. Tante Ernas grässlicher Pflaumenkuchen? Vielleicht hassen wir heute Pflaumen. Unser erstes blaues Dreirad? Mag sein, dass Blau bis heute unsere Lieblingsfarbe ist. Andererseits wurden wir vielleicht einfach, was wir ohnehin geworden wären, versuchen aber krampfhaft, die Lücken und Schubladen im Nachhinein mit tiefgreifenden Erinnerungen zu füllen, um die vielen Fragezeichen auszumerzen und nicht gänzlich unmündig in Bezug auf das Innerstes unseres Inneren zu bleiben. Wer kann das schon mit Bestimmtheit sagen?
Wie auch immer, ein Fragezeichen hat sich durch mein ganzes Leben gezogen und seine Spuren wurden wohl im Laufe der Jahre immer fester getreten.
Es begann in Frau Wegrichs Biologiestunde. Ich muss um die zwölf Jahre alt gewesen sein. Timon Bernau versuchte gerade, mit einem ausgehöhlten Stift, die grauen Radiergummikrümel über seinen Tisch zu blasen. Die dicke Magda hielt mit dem hässlichen Helge unter der Bank Händchen. Und ich malte eine Pistole in mein Buch und zeichnete die Kugel, wie sie gerade auf ein Ziel außerhalb der Schulbank zuschoss, und schrieb groß “PENG” dazu.
Irgendwann sprach Frau Wegrich über Kolibris. Ich horchte auf. KOLIBRI, ich mochte dieses Wort, es klang wie Stromboli oder Abakus oder Spitzbergen, ich hatte eine Vorliebe für diese Worte, die in meinen Ohren so seltsam märchenhaft schimmerten.
Ich suchte den Kolibri in unserem Schulbuch, fand ihn aber nicht. Wir nahmen nämlich gerade die Libellen durch. Da hörte ich einen Satzbrocken von Frau Wegrich: “. . .und bis zu 200 Flügelschläge. . .”.
Ich tat etwas, das ich nur etwa einmal im Quartal über mich brachte, ich hob die Hand.
“Ja bitte?” fragte die Lehrerin hocherfreut, auch sie war überrascht.
“Ich hab’ das nicht genau verstanden, wie oft bitte schlägt der Kolibri in der Minute mit den Flügeln?”
Frau Wegrich lächelte, froh, dass sich endlich mal jemand für ihre Darbietungen interessierte.
“Um die 80 mal, in der Balzzeit sogar bis zu 200 mal, aber nicht in der Minute, in der Sekunde!”
Ich war paff, wie konnte das sein?
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. . . So zählte ich immer, wenn wir im Sommer nach Italien fuhren. Wann sind wir endlich da? Zähl bis 100, hatte es dann geheißen.
Und in diesem EINUNDZWANZIG schlug dieser kleine Vogel 200 mal mit seinen kleinen Flügeln?
Ich versuchte, zweihundert Striche nebeneinander in mein Buch zu malen, kam aber nur bis 49, dann läutete die Glocke.
In der Pause ging ich mit Lilly aufs Klo und teilte ihr mein Kolibri Problem mit. Sie hatte nicht aufgepasst, weil sie Timons Brief entziffern musste, in dem er sie wohl am Sonntag zum Eisessen einladen wollte. Lilly meinte, dass der Kolibri vielleicht eine Art Akku eingebaut hätte, wodurch er diese Schnelligkeit erreichen würde. Uns gefiel auch die Idee, dass Kolibris eigentlich außerirdische Wesen seien, auf deren Heimatplaneten die Zeit komplett anders ablaufen würde. Eine Sekunde für uns wären demnach womöglich Jahre für diese Tiere!
„So gesehen ist der Kolibri vielleicht ein total langsames Aas, ein Faultier!“ ulkte ich. Wir kicherten die ganze nächste Stunde, bis uns der Mathelehrer auseinandersetzte.
Zu Hause befragte ich meinen Vater dazu, der mich stolz ansah und versprach, demnächst ein ausführliches Gespräch mit mir darüber zu führen, wenn er von seiner Dienstreise zurück sei. Drei Tage Reise. Ich nahm den Taschenrechner, 72 Stunden, 4320 Minuten, 259200 Sekunden. Machte insgesamt 51840000 Flügelschläge.
Mein Bruder wiederum wollte mir eines seiner alten P.M. Hefte um mein Wochentaschengeld verkaufen, mit dem Titel “Zeit, Raum und Traum”. Ich lehnte ab.
Ich hatte das Heft schon vor langem heimlich durchgeblättert und ohnehin nichts verstanden.
Am Nachmittag besuchte ich Lilly. Wir aßen Pizza und griffen das Thema wieder auf. Wir überlegten: Wenn wir die Pizza in acht Stücke teilten und diese exakt aufeinander stapelten, nahmen sie nur so viel Grundfläche ein, wie ein einziges Stück. Wenn dieses Stück also eine Sekunde wäre könnte ich so viele Pizzastücke drauf stapeln, wie ich wollte, es würde von unten oder oben gesehen immer nur ein Stück sein, immer nur eine Sekunde.
“Vielleicht ich das alles Ansichtssache”, meinte ich. “So wie wir die Zeit sehen, sehen wir sie wie diese runde Pizza, im Ganzen. Aber der Kolibri unterteilt sie, stapelt sie und trägt sie auf seinen Flügeln!” Das klang irrsinnig gut, ich hatte aber keine Ahnung, was ich meinte.
“Aber”, warf nun Lilly ein, die seltsamerweise offensichtlich verstanden hatte, worauf ich hinaus wollte, “das würde dann bedeuten, dass die Flügelschläge gleichzeitig passieren, was aber nicht stimmt. Der Kolibri schlägt ja hintereinander, nicht gleichzeitig!”
Das stimmte, andererseits, was hieß schon ‘gleichzeitig’, wenn die Zeitspanne, um die es ging, ohnehin verschwindend klein war.
Auf dem Heimweg sah ich mich um. Der laue Sommerwind hatte einige Blüten auf die Straße gepustet. Einmal Pusten, 200 Flügelschläge. Ein Augenblick, ein Moment, ein Zwinkern, ein Zittern.
Irgendwo schlug ein Fenster zu, eins. Ein Steinchen drückte in meinem Turnschuh, zwei. Ich dachte an den großen Dunkelhaarigen aus der siebten, drei. Meine Mutter öffnet eine Mehlpackung, vier. In meinem Zimmer rieselt Staub vom Kasten, fünf. Ich fühle etwas Komisches, sechs.
Es waren eigenartige Gedanken, und ich wundere mich noch heute, wie so eine schlichte Information in der Biologiestunde mein zwölfjähriges Mädchenhirn so beschäftigen konnte, wo ich doch bereits auf Sommerferien, Baden, kurze Hosen und Erdbeereis eingestellt war. Mir war, als hätte ich unabsichtlich einen verbotenen Blick in ein Reich gemacht, das sich mir noch gar nicht erschließen sollte. Was war Zeit? Was bedeutete ‘jetzt’, wann begann es, wann endete es?
Als ich mich dieser Thematik erschöpfend hingegeben hatte, begann die Pubertät und damit war ich eine Zeitlang „out of order“ und verließ somit kurzfristig die Gefahrenzone, um mich wichtigeren Dingen, wie Lipgloss, Jungs und Pickeln zu widmen.
Doch als ich älter wurde, holten mich diese Überlegungen wieder ein und machten mich traurig, weil ich sie noch weniger fassen konnte, als in der Kindheit. Viele schöne Momente schmerzten mich gleichermaßen, wie sie mich glücklich machten, weil ich gefühlt nur einen Flügelschlag vollbringen konnte, sie nur einen Flügelschlag lang erleben durfte. Für mich bekam der Kolibri Symbolcharakter, so als wäre nur er alleine durch seine Dynamik fähig, selbst den kleinsten Augenblick mit der größtmöglichen Aktion zu fluten und dadurch vollständig auszufüllen und zu erleben. Er war fähig, die Pizza ins Unermessliche zu stapeln.
Was hätte ich darum gegeben, ein Kolibri zu sein, wenn etwa nach einem langen Sommerregen, der letzte Tropfen fiel, meine Katze beim Erwachen auf meinem Bauch lag, ich in lauen Nächten das erste Glühwürmchen erblickte, und zum ersten Mal nach dem langen Winter die wärmende Sonne auf der Haut spürte, Karamellsauce meinen Gaumen berührte oder ich mich einfach nur Debussys ‘Clair de lune’ hingab.
Mir war meine Erlebensfähigkeit zu wenig für all das, was so wunderbar um mich herum stattfand. Ein Fass ohne Boden, das ich niemals füllen könnte.
Jahre später lernte ich meinen Mann kennen. Mit ihm konnte ich gemeinsam in dieses seltsame Mysterium des Moments eintauchen, das machte es etwas leichter. Er begleitete mich, ja er trug mich sogar, wenn mir der Weg in einem Gespräch zu beschwerlich schien, manchmal bis zu dem Punkt, wo ich mich ängstigte, weil ich für Sekundenbruchteile eine Ahnung dieser eigenartigen Sache, die wir Unendlichkeit oder Ewigkeit nennen, bekam, und ich erschrak, weil dies alles zu groß war und ich so. . ., nun ja, eben so sehr ich.
Und dann, irgendwann an einem späten Nachmittag im Spätsommer lag ich im Gras, weil ich mir gerade so fremd war und sah nach oben. Dort flog etwas, ein Adler, ein Bussard?
Ich weiß es nicht, doch dieser große Vogel mit seinen weit ausladenden Flügeln schwebte durch die Himmel hindurch, legte sich ans Firmament, als gieße er sich praktisch in dieses Blau hinein.
Doch was mich am meisten faszinierte, er schlug mit seinen Flügeln kein einziges Mal. Er verharrte wie in Verzauberung, ohne Hektik, ohne Hast und schien in jedem einzelnen Moment völlig in seinem Erleben aufzugehen.
Und erstmals überfiel mich so etwas wie Zufriedenheit, ein stilles Verstehen, das endlich meine ständige Suche ablöste. Wie ein Doppelpunkt gefolgt von: Aha, so ist das also, das steckt dahinter. . .
Ein Moment IST also einfach, er kann ein Schimmern sein, oder ein Flackern, ein Blitz, ein Dämmern. Oder er ist die Dunkelheit, die Nacht. Nicht ich muss die Flügel schlagen, sondern der Augenblick offenbart sich mir, wie er eben will. Ich war der stille Adler, der in diesem Schweben alle Flügelschläge der Welt vollführen konnte, oder eben keine.
Und ich meinte auch, das mit der Liebe etwas besser zu verstehen.
Wenn ein Kuss nicht lediglich dieser warme Druck auf den Lippen ist, sondern gleichzeitig eine Ahnung von zu Hause, ein Versprechen, ein Geständnis und eine Hingabe, eine Bedeutung ohne Erklärung, ein Sehnen ohne Schmerz, eine Erfüllung, und ein Traum, der tausendmal geträumt, jedes Mal als neuer ersteht.
Dies war meine Antwort, zumindest bis jetzt.
Aber wer weiß schon, wie viele Pizzastücke ich in meinem Leben noch stapeln werde. . .
“200 Flügelschläge” ist im Magazin “Abenteuer Philosophie”, Ausgabe 01/2019, erschienen: