Es ist müßig, über den morgendlichen Lebensfrust zu schreiben, das Elend, womit uns das erste Weckerläuten überschüttet. Das Leben ist eines der schwersten, das weiß ohnehin jeder, also warum hadern? Sprechen wir lieber über Gegenmaßnahmen.
Zum Beispiel über die Zufuhr von Kaffee und aller Art süßen Gebäcks. Das hilft ein wenig, außer man schafft es, mit zwei Promille im Blut arbeiten zu gehen. Ich nicht, daher muss ich leider auf Hochkalorisches und Koffein zurückgreifen. Aber egal, es lindert den Schmerz, wenn auch nur eine Schokoschnecke lange.
Auf jeden Fall gibt es da diese Bäckerei bei der Straßenbahnstation, der ich mich tagtäglich von Neuem stellen muss. Um dem schreienden Kindermob an der Haltestelle entgegentreten zu können, den Unbilden des neuen Arbeitstages, dem Weltschmerz an sich und überhaupt, hole ich mir jeden Morgen einen Kaffee und etwas frisch Gebackenes.
Im Allgemeinen bedient mich dort ein junges Mädchen, Lilly, das agil und motiviert direkt von der Bäckerschule oder so, ihre gesamte Produktpalette kennt und mittlerweile auch bereits meine persönlichen Vorlieben. Etwa, dass ich den Kaffee mit kalter Milch bevorzuge, damit ich mir nicht bei der ersten Kurve die Lippen verbrenne und fortan den Monsterkindern einen Vorwand zum Kichern liefere.
Aber vor einiger Zeit betrat ich frühmorgens das vollverglaste Geschäftchen, das mir immer schon von Weitem leuchtet, in dunkler Nacht, und drinnen war . . . niemand. Ich wartete einen Moment, während ich in die üppig befüllte Glasvitrine blickte, als ich aus dem Hinterzimmer eine leise Stimme hörte:
“Ja, ja, ich weiß, aber da musst du einfach mal hart bleiben, ihm die Meinung sagen. . . Hm, ja,. . . so hoch ist seine Pension auch wieder nicht, da findest schon wen anderen, aber. . . Moment mal, ich glaub’, da ist schon wieder wer lästig, ich ruf dich gleich wieder an!”
Dann war‘s still.
Irgendwie war ich verärgert, weil, schließlich war ich doch Kunde, oder? Aber auch etwas beschämt, weil ich ja offensichtlich die Lästige war. Hinter der Vitrine tauchte ein etwas verhärmtes gefaltetes Gesicht auf. Eine Frau Mitte 50 blickte mich unverhohlen feindselig an und fragte: “Ja?”
Ich war ein wenig perplex ob der forschen Anrede, fing mich aber sogleich und sagte:
“Einen Kaffee, bitte.”
“Cappuccino? Mocca? Espresso? Verlängerter?”
“Einen Verlängerten, bitte!”
Die Frau bewegte sich mit rund 0,2 Stundenkilometer an der Theke entlang. Sie trug ein Schild knapp über den berstend großen Brüsten, die von den sehr stark angenähten Knöpfen eines weißen Bäckermantels zusammengehalten und dadurch zu einem einzigen großen Paket geschnürt wurden. Darauf stand: Es bedient Sie Frau Herta.
Ja, das passte.
Frau Herta schüttete Kaffee in ein Behältnis und manövrierte es in die große Espressomaschine und stellte eine Keramiktasse davor.
“Ähm, zum Mitnehmen bitte!”
Das Seufzen, das Frau Herta von sich gab, als sie die Tasse gegen einen Papierbecher austauschte, war nicht zu überhören und wohl auch nicht dazu angetan.
Dann fiel mir leider noch etwas ein.
“Mit kalter Milch bitte.”
In meiner Fantasie raufte sie sich nun die Haare, riss die Knöpfe der weißen Busenkluft ab, rollte mit den Augen und sprang auf der Stelle.
In echt rollte sie nur mit den Augen, aber die Knöpfe taten mir trotzdem leid.
Frau Herta stellte mir den Kaffebecher auf die Vitrine.
“Macht 3 Euro 20!”
“Aber der Verlängerte kostet doch nur 2 Euro 80?” wagte ich nun doch zu fragen.
Frau Herta drehte den Kopf langsam, etwa so langsam wie ein Germteig aufgeht, zur Anschlagtafel und sagte dann ohne weiteren Kommentar:
“Macht 2 Euro 80.”
Na gut, schwierig war jetzt nur, dass ich unbedingt noch eines von den süßen Dingern hinter der Glaswand wollte, also atmete ich tief durch und sagte dann mit piepsiger Stimme:
“Ich hätte noch gerne etwas von diesen da”, und deutete auf die Masse an Leckereien, “bitte”.
Ich glaube, ich sagte deshalb so oft “bitte”, weil ich schlicht und einfach Angst vor dieser Frau hatte.
Der Blick, der mich jetzt unter ihrem schwarz gefärbten Föhnhaar traf, war auch gar nicht so freundlich.
“Und was?”
Eine leicht nervöse Spannung befiel mich. Normalerweise lasse ich mir nämlich genüsslich Zeit. Lilly informiert mich sonst immer, was es Besonderes gibt. Meist schenkt sie mir dann noch etwas vom Vortag dazu, das sie eigentlich nicht mehr verkaufen darf. Mich deuchte, das würde Frau Herta heute nicht tun.
Mein Kopf war leer, ich konnte mich unter ihrem Obersturmbandführer- “Sir-Yes-Mam”-Blick nicht entscheiden.
Da sagte Frau Herta überraschend: “Topfentascherl?”
Topfentascherl. Pah! Ich mag keine Topfentascherl! Ich mag die Rosinen nicht, ich mag die Kombination von Topfen, Hitze und Teig nicht, und überhaupt. . .
“Ja, bitte, ein Topfentascherl.”
Frau Herta umspannte das Gebäck schnöde mit zwei Fingern und deponierte es in ein Papiersackerl. Dabei hatte ich Zeit, ihr Schild etwas näher zu betrachten. Da stand nämlich nicht: Es bedient sie Frau Herta. Da stand: Es bedient sie GERNE Frau Herta!
Ich stutzte, dann staunte ich. Und dann ging mir ein Licht auf. Plötzlich verstand ich alles, den Lauf der Dinge, das Wesen der Welt, das große Ganze.
Ich legte zehn Euro auf die Theke, sagte: “Passt so”, und verließ das Geschäft. Frau Herta hatte mich nicht nur gerne bedient, sie nahm auch das Trinkgeld gerne entgegen.
Wenn diese Frau mich also tatsächlich GERNE bediente, dann war vielleicht alles gar nicht so verfahren. Dann waren die kleinen Zombies, die sich in der Straßenbahn vor mir zu dritt auf den letzten Sitzplatz warfen und dabei grunzten, pupsten und schubsten, vielleicht besonders wohlerzogene Jungen und Mädchen, und der graunasse kalte Regenmorgen war eigentlich ein wunderschöner Sonnentag. Meine Schürfwunde unterm linken Knie war eine willkommene Ablenkung vom Alltag, Kriege waren Gesellschaftsspiele, Schimpfworte nur falsch interpretierte Liebesbezeugungen und der Tsunami in Japan war ein freundlicher Gruß der Natur gewesen.
Ich war beseelt. Diese Dame mit der kalkigen Gesichtsfarbe, dem schwarzgefärbten Topfdeckel am Kopf und dem grobschlachten Umgangston, hatte mich gerne bedient und mir damit die Augen geöffnet.
Während ich an meinem Kaffee nippte, erkannte ich, dass ich wahrscheinlich auch gerne frühmorgens aus dem Haus ging, dass ich gerne mein warmes Bett verließ und gerne in der Dusche fünf Minuten auf warmes Wasser wartete, dass auch meine Katze gerne fastete, weil ich vergessen hatte, Futter zu kaufen und ich selbst gerne durch den eiskalten Morgen stapfte und dabei gerne am Kanaldeckel ausrutschte.
Und vor allem dieses Topfentascherl, das würgte ich wirklich gerne runter. . .