Es muss einen tieferen Sinn haben, dass es große Brüder mit kleinen Schwestern gibt. Ich denke, das Leben lehrt einen die wahre Bedeutung. Und das Schicksal mag zwar nicht immer gnädig sein, aber witzig ist es allemal.
Mein Bruder Bobby und ich kennen uns ja schon recht lange. Und ich glaube, meine Aufgabe als kleine Schwester war in erster Linie, ihn intensiv auf das spätere Leben da draußen einzustimmen und ihm schon sehr früh, bereits als er zum ersten Mal auf mich aufpassen musste und meine klebrigen Marmeladenhände auf seiner neuen Latzhose bemerkte, beizubringen: Das Leben ist kein Zuckerschlecken, zumindest nicht für dich!
Kleine Schwestern machen stabil. Was den großen Bruder im Kindesalter nicht umbringt, macht ihn tatsächlich nur härter, vielleicht auch ein wenig demütiger, sicher jedoch nicht optimistischer.
Und wenn große Brüder älter werden, zieht man Bilanz und freut sich mit der Genugtuung der kleinen Schwester, die mit Regenwürmern in der Schultasche, Gruselshows im Kinderzimmer und Lügengeschichten über große schwarze Spinnen unterm Bett aufgewachsen ist, über die ausgleichende Gerechtigkeit.
Wie etwa, dass mein Bruder irgendwann nicht mehr nur ein, sondern drei Weibchen bei sich zu Hause hatte. Ich erinnere mich da an ein ganz spezielles intensives Zeitfenster, in dem alle gemeinsam gehaust haben.
Seine Tochter, die damals gerade volljährig geworden war und sowohl heiraten, wählen und sich selbst die Entschuldigungen für den Unterricht schreiben durfte und die unter der vordergründig zurückhaltenden Schale eine Chilischote kleben hat. Dann gibt es natürlich seine Frau Betty und schließlich noch Bettys Tochter, ein buntes Girl, das voll im Leben steht und wie ein Wirbelwind die Zeit zum Stillstand bringt und wieder ankurbelt. Drei zum Preis von fünf oder so ähnlich, hängt von Bobbys Tagesverfassung ab.
Mein Bruder liebt alle drei gleichermaßen, und würde man versuchen, ihm auch nur eines dieser Frauenzimmer zu entwenden, würde er nie wieder aufhören zu weinen, wie es unsere liebe Freundin Enanita formulieren würde.
Dennoch trug er sein Los damals auf betont gelassene Weise zur Schau, wenn man ihn etwa fragte, wie es so ginge und er daraufhin meinte: “Hm, na, ja, weißt eh. . .”, und dann absichtlich gequält lächelte, während er drei Lippenstifte, fünf Frauenmagazine, ein Biologiebuch und ein verwaschenes T-Shirt sachte vom Tisch fegte, um sein Abendessen einzunehmen.
Und seit “Kasperl” als Frühstücksfernsehprogramm abgesetzt worden ist, hat er sich denn auch seine eigene Morgenshow gemeißelt, und die sah so aus:
Bobbys Handywecker klingelt. Er steht auf und schlendert noch etwas verschlafen Richtung Bad. Die Türe ist verschlossen, von drinnen hört er in morgengrauer Stimme, die durch die Föhngeräusche etwas gedämpft wird: “Moment noch, bin gleich fertig, fünf Minuten.” Tochter Nummer eins.
Bobby geht in die Küche und stellt den Teekessel auf und beginnt, die Zeitung zu lesen. Nach etwa zwanzig Minuten geht die Badezimmertüre auf.
Mein Bruder holt sich ein frisches Handtuch und begibt sich auf den Weg zum Bad. Als er bei der Türe ankommt, ist sie verschlossen. Dahinter vernimmt er: “Ja, ja, bin eh gleich fertig! Fünf Minuten!” Diesmal ist es eine etwas tiefere Stimme, Betty.
Bobby, sieht auf die Uhr, es wird etwas knapp, außerdem muss er aufs Klo.
Er setzt sich wieder zum Küchentisch, trinkt seinen Tee und wartet. Nach weiteren zwanzig Minuten hört er wieder die Türschnalle. Vor lauter Aufregung fährt er hoch, schüttet dabei leider seine Teetasse um, worauf er aber keine Rücksicht nehmen kann, jetzt heißt es Sputen! Am Morgen gibt es nur ein Gas, Vollgas!
Er stürzt zur Badezimmertür, die sich gerade vor ihm schließt. Wie Rocky schreit er im Geiste noch „Adriaaaan“, aber es ist zu spät! Von drinnen hört er nur kichernd “Ätsch”. Tochter Nummer zwei. Und dann: “Brauch nur fünf Minuten!”
Bobby trocknet mit Küchenrolle den Tisch, tupft die Zeitung ab und hängt sie über den Heizkörper. Nach 25 Minuten verlässt auch die dritte Frau in seinem Haushalt den Nassraum. Bobby eilt ins Bad, die Blase hat sich schon recht heftig gemeldet, zuerst also mal schnell aufs Klo, oder wie die großen Buben sagen, die Boa würgen! Auf dem Weg dorthin übersteigt er BH’s, Pyjamahosen, Strümpfe und allerlei Kleiderzeugs. Rund ums Waschbecken stehen durcheinander Puderdosen, Wimperntusche, Nagellack, Lipgloss, Tampons, Reinigungstücher und ein…Schraubenzieher? Bobby wundert sich, aber nicht lange. Keine Zeit, Boa schreit. Dennoch schaltet er noch den Lockenstab aus, der schon recht dampfig auf der Waschmaschine liegt und hebt den Föhn vom Boden auf. Er macht sich keine Sorgen, abends herrscht hier wieder Ordnung, denn auch die Mädels wollen jeden Tag ihr Chaos neu erschaffen!
Nach der Toilette steigt er in die Dusche. Bobby steht unter dem warmen Strahl und schäumt sich ordentlich mit Duschgel ein, bis er merkt, dass die Temperatur sinkt, bis ihn nur mehr homöopathisch erwärmtes Wasser überschwemmt. Wie sollte es auch anders sein? Bobby versucht fröstelnd zu Ende zu duschen. Dummerweise hat er in der Hektik vergessen, die Türe abzusperren.
Durch das Milchglas der Duschwand erkennt er etwas Blondes.
“T’schuldige Schatz, aber hier muss noch irgendwo mein. . . Ah! Da ist er ja.” Gleichzeitig erscheint im Hintergrund ein dunkler Haarschopf, der sich am Boden zu schaffen macht. “Mama, wo ist meine Kontaktlinsenflüssigkeit?”
Bobby ist schon ganz zittrig, wagt es aber nicht, herauszukommen. Da schneit auch noch ein roter Kopf herein, steuert schnurstracks auf die Dusche zu und öffnet sie mit einem Ruck.
Bobby erstarrt, übersät mit weißem Schaum, da sich selbiger mit Eiswasser nicht so leicht entfernen lässt. Ein Mädchen steht draußen und hält sich die Hand vor die Augen. Es könnte seine Tochter sein, aber sicher ist er sich nicht mehr: “Papa, wo is‘ mein Mathebuch? Das hab ich doch gestern noch gehabt!”
Bobby bibbert und meint dann etwas naiv: “Vielleicht im Schulrucksack?”
“Geh Papa, bitte!”
Da ruft eine Stimme von hinten: “Das ist im Wohnzimmer bei den Sektgläsern!”
Bobby wundert sich kein bisschen, er hat Schulbücher auch schon beim Altpapier gefunden.
Er lauscht, er hört nichts mehr. Mit leisen Schritten steigt er aus der Dusche, man weiß ja nie. Aber die Luft scheint rein zu sein. Er entspannt sich etwas und kleidet sich an. Draußen wuseln hektisch sehr vielen Frauen durch die Gegend, ihm scheint, es wären mehr als drei. Bobby umarmt und küsst alle, nimmt seine Tasche und verlässt das Haus. Er kommt eine Stunde und 15 Minuten zu spät zur Arbeit.
In Zukunft beschließt er, zwei Stunden früher aufzustehen. Und wenn das auch nicht hilft, kann er noch immer zum Nachbarn duschen gehen, oder aufhören zu duschen, oder aufhören zu arbeiten, oder Auswandern.
Tja, so war es damals. Mittlerweile sind einige Jahre ins Land gezogen und die Töchter kommen, aber sie gehen auch wieder. Und wenn Bobby doch irgendwann allzu nostalgisch wird, erinnert ihn Betty daran, dass es doch etwas für sich hat, sich morgens im Bad nicht am eingeschalteten Glätteisen die Zehen zu verbrennen.